Jörg Lau warnte in Die Zeit vom 21. Februar vor einer Aushöhlung „der Idee der ‚Wertebindung‘ deutscher Außenpolitik“. Er hat damit die Debatte um Werte und Interessen in der deutschen Außenpolitik neu entfacht. Sie bricht immer dann auf, wenn es um fast existentielle Entscheidungen in vertrackten Situationen der internationalen Politik geht. Mit der Debatte um den Konflikt von Werten und Interessen oder ihrer fundamentalen Übereinstimmung kann man sich auf eine höhere Ebene emporschwingen und der konkreten Entscheidung entkommen. In der geht es nie um die einfache Entscheidung zwischen Werten und Interessen, sondern um die kompliziertere Abwägung von konfligierenden Werten und die allemal umstrittene Frage, worin denn eigentlich in der bestimmten Situation das deutsche Interesse bestehen könnte.
Die abstrakte Debatte um Werte und Interessen erledigt nicht das Problem, mit der inneren Entwicklung Russlands oder Chinas nicht einverstanden zu sein und daraus auch kein Hehl zu machen und doch eine Verständigung mit diesen beiden Mächten darüber zu suchen, wie der Sicherheitsrat vielleicht doch noch eine gemeinsame Politik entwickeln könnte, um ein Ende des Bürgerkrieges in Syrien zu erreichen. Solche Fragen brennen auf den Nägeln. Die abstrakte Debatte um Werte und Interessen erlaubt es, sich von der Ratlosigkeit und der Frustration, im konkreten Fall nicht voranzukommen, zu lösen und sich erregt und doch entspannt einer Kontroverse zu widmen, in deren Verlauf es gar nicht darauf ankommt, eine Entscheidung zu treffen. Leisten wir uns also ein bisschen Entspannung und folgen der Debatte in der Zeit.
Der Aufschlag
Jörg Lau schreibt einleitend: Angela Merkel erhebe zwar den Anspruch, die Außenpolitik nicht nur an Interessen, sondern auch an Werten auszurichten: „Interessengeleitet und wertegebunden“ zugleich zu agieren. Aber, so fragt er weiter, „geht das überhaupt in einer Welt voller schwieriger Partner? Lässt sich eine unaufgeregte, selbstbewusste Menschenrechtspolitik durchhalten, die Deutschland nicht kleiner und nicht größer macht, als es ist?“. Die verdruckste Formulierung „schwieriger Partner“ höre man in Berlin immer häufiger, sie solle das Dilemma beiden, Werten und Interessen, gerecht zu werden, nur bemänteln.
Unter den Leuten und Institutionen, die im Deutungskampf um die Ausrichtung der deutschen Außenpolitik die Neigung zeigten, sich Despoten schön zu reden, nennt Lau ausdrücklich Hans-Dietrich Genscher und Philipp Mißfelder sowie Eberhard Sandschneider, den Leiter des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Genscher lasse sich für Werbezwecke von Diktatoren wie Nasarbajew, den Präsidenten von Kasachstan, einspannen und Philipp Mißfelder, außenpolitischer Sprecher der CDU, sehe die Aufgabe der Außenpolitik darin, in Ländern ohne lupenreine Bilanz in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für eine Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen und des Investitionsklimas zu sorgen: „Die Bundesregierung übernimmt dabei die Rolle des flankierenden Partners für die Deutsche Wirtschaft.“
Darauf, dass auch europäische Sozialdemokraten, wenn sie erst einmal den Status des Elder Statesman erworben haben, sich leicht in die Intrigen von Leuten wie Nasarbajew verstricken lassen, hat der Spiegel (11/2013) gerade erst hingewiesen. Gerhard Schröder schlug eine Bresche für solche Ummünzung von politischem Einfluss.
Als eine Art Cheftheoretiker für die Verschiebung der Außenpolitik von Werteorientierung in Richtung Interessenleitung macht Jörg Lau Eberhard Sandschneider aus. „Wer die DGAP unter Sandscheiders Leitung verfolgt, erkennt ein Leitmotiv: Kritik an ‚unrealistischen Wertebezügen‘. Man kann das so übersetzen: Deutschlands Außenpolitik leidet unter allzu vielen moralischen Bedenken.“
Es seien immer die gleichen Redefiguren, mit denen die Tyrannen für unantastbar erklärt werden: „Sie stehen für Stabilität. Wer sich in die Pose des Anklägers wirft verspielt Einfluss und Marktzugang. Wir brauchen ihre Kooperation zur Lösung weltpolitischer Probleme. Die deutsche Geschichte (der Kolonialismus oder eine sonstige abendländische Schuld) mahnt uns zur Zurückhaltung und Respekt.“
Bei genauerem Hinsehen erwiesen sich diese Redefiguren als Ausreden fürs Nichtstun. Russen und Chinesen etwa folgten schlicht ihren eigenen Interessen. „Nettigkeit wird sie nicht davon abbringen. Die Diktatorenknutscherei ist nicht nur unwürdig. Sie bringt auch nichts.“
Umgekehrt werde die Konsequenz westlicher Kritik übertrieben. „Deutsche Produkte sind so gut, dass auch heftig kritisierte Länder sie haben wollen.“ Es gebe einen Zielkonflikt zwischen Werten und Interessen. „Doch liegt der Schluss nahe, dass Deutschland ungestraft noch viel deutlicher in der Welt für seine Werte eintreten könnte.“
Fürs erste bleibt festzuhalten, wie eng wirtschaftlich Lau die deutschen Interessen hier versteht und wie nahe er damit den Lobbyisten der Wirtschaftsverbände kommt.
Der Return
In seiner Erwiderung (Die Zeit 28.2.2013) versucht Eberhard Sandschneider erst gar nicht, sich missverstanden zu fühlen. Die Debatte um deutsche Außenpolitik wirke, auch wenn sie sich in den letzten zwei Jahrzehnten sehr entwickelt habe, immer wieder regelrecht moralinsauer.
„Das mag damit zusammenhängen, dass in dieser Debatte vielfach Extrempositionen bezogen werden: Auf der einen Seite geht es um Werte, auf der anderen Seite um ökonomische, bestenfalls um sicherheitspolitische Interessen. Fälschlicherweise unterstellt die Debatte, dass beides in einem Widerspruch zu einander steht. Werte und Interessen lassen sich nicht trennen – und dürfen auch nicht getrennt werden, wenn es um eine Außenpolitik geht, die nach Glaubwürdigkeit als Voraussetzung für Erfolg strebt.“ Das hätte man nun gern etwas ausgeführt bekommen. Darauf verzichtet Sandschneider aber. So bleibt unklar, wie aus Sandschneiders Sicht Werte und Interessen überhaupt in Widerspruch geraten können. Dass es dazu kommen kann, erläutert Sandschneider am Beispiel der europäischen Politik gegenüber dem Ägypten Mubaraks:
„Er war kein Demokrat. Das wussten wir damals, so wie wir es heute wissen. Trotzdem hat seine Regierung über viele Jahre eine fragile Stabilität im Nahen und Mittleren Osten gesichert und hat die Zusammenarbeit mit seinem Regime begründet.“ Erklärbar werde diese Politik nur aus „einer Tatsache, die man nicht deutlich genug ansprechen kann: Wenn Werte und Interessen in Konflikt zu einander stehen, kann es für eine pragmatische Außenpolitik notwendig und durchaus auch sinnvoll sein, zeitlich begrenzt seine Interessen in den Vordergrund tu stellen.“ Was Sandschneider hier als „Tatsache“ zur „Erklärung“ eines bestimmten Verhaltens anführt, ist nichts anderes als die tatsächliche Entscheidung Europas, für eine Weile, sie war ziemlich lang, „seine Interessen“ allein gelten zu lassen.
Fehler
Außer einem winzigen Hinweis Sandschneiders auf das „Völkerrecht mit seinem Gebot der Nichteinmischung“ gibt es weder in Laus Attacke, noch in der Entgegnung Sandschneiders eine Erwähnung der UN mit ihrer Charta, ihren Institutionen und Nebenorganisationen. Das macht die Argumentation der beiden Kontrahenten so provinziell wie abstrakt. Wenn Deutschland ein fundamentales Interesse daran hat, diesen Ordnungsrahmen mit seinen Rechten und Pflichten zu verteidigen, zu festigen und stärker zur Geltung zu bringen, dann ergibt sich für die deutsche Außenpolitik ein anderer Kontext konkreter politischer Entscheidungen. Ihn übersehen die beiden Kontrahenten systematisch. Er kam nur durch die aufgeschreckte Reaktion Gerhard Baums auf die Ausführungen Sandschneiders und einen Leserbrief des Ex-Botschafters und früheren Leiters der OSZE-Mission in Minsk Hans-Georg Wieck ins Spiel (Die Zeit 14.3.) Doch auch bei Lau tauchen die UN nicht auf. Der Aufschlag Laus und der Return Sandschneiders hätten deshalb so schon 1913 gespielt werden können. Doch gibt es seither, belehrt durch zwei Weltkriege, neue Regeln der internationalen Politik und mit den UN auch eine Organisation, die diese Regeln garantieren soll, aber mangels vereinigter Ordnungsmacht im Sicherheitsrat oft nicht durchsetzen kann.
Auch sind die Menschenrechte, wie sie in der allgemeinen Erklärung von 1948 proklamiert wurden und seitdem immer wieder bekräftigt wurden, obwohl sie nicht rund um die Welt juristisch wirksam eingeklagt werden können, mehr als unbestimmte Werte, erst recht nicht einfach Werte des Westens wie Sandschneider unterstellt. Sie können rund um die Welt politisch eingefordert werden und rund um die Welt lässt sich dafür politische Unterstützung organisieren.
Die UN sind Realität!
Natürlich liegt es im Interesse Europas, also auch Russlands, dass sich dessen innere Verhältnisse in Richtung auf die Erklärung der Menschenrechte und Demokratie entwickeln. Dem entspricht das Interesse, Russland als Mitglied des Sicherheitsrates gemäß der Charta der UN zu aktivieren und für ein gemeinsames Vorgehen in den großen Konflikten zu gewinnen. Daraus folgt nicht, dass die innenpolitische Entwicklung Voraussetzung für das außenpolitische Vorhaben ist. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass Russland auch bei eingeschränkten demokratischen und rechtsstaatlichen inneren Verhältnissen im Sicherheitsrat vernünftige Gründe für oder gegen bestimmte Entscheidungen zu bedenken geben könnte. Entscheidungen des Sicherheitsrates beziehen sich ja nicht in erster Linie auf die innere Verfassung und Politik der Mitgliedstaaten, sondern auf die Frage, inwieweit die Politik eines Staates die „Wahrung des Weltfriedens und die internationale Sicherheit“ gefährdet und ob „eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung“ seitens eines Staates vorliegt.
Russland wie auch China haben immer der Erneuerung des Mandats der ISAF in Afghanistan zugestimmt. Sie haben auch seine praktische Umsetzung unterstützt. Der Grund ist, dass sowohl Russland als auch China kein Interesse an internationalem Chaos haben und deshalb ihre Rolle im Sicherheitsrat durchaus ernst nehmen. Dort treffen zwar unterschiedliche Wertorientierungen und Interessen aufeinander. Man kann aber ein gemeinsames Interesse am Erhalt des UN-Rahmens voraussetzen.
Im Fall von Syrien ist zumindest erwägenswert, ob die russische Weigerung, den Rücktritt Assads als Vorbedingung für Verhandlungen zu akzeptieren und sich damit einseitig auf die Seite des Aufstands zu schlagen, nicht gute Gründe für sich in Anspruch nehmen konnte. Diese Gründe können auch im Rahmen der responsibility to protect geltend gemacht werden. Die Verantwortung besteht darin, Schaden zu begrenzen. Wenn am Ende der Staat zertrümmert ist, dessen Verantwortung gegenüber seiner Bevölkerung durch die internationale Gemeinschaft übernommen wird, dann kann dauerhaft jede Möglichkeit, die Bevölkerung zu schützen, zerstört sein. Und wenn sich in dem Bürgerkrieg ein Stellvertreterkrieg verbirgt, der mit dem Sieg schon den nächsten größeren Krieg gegen den Iran ins Auge fasst, müsste sich der Sicherheitsrat darauf einigen, auf beide Seiten Druck auszuüben, um den Bürgerkrieg zu beenden. Dass Russland keine lupenreine Demokratie ist, schließt nicht aus, dass es in einer bestimmten Frage gute Gründe auf seiner Seite hat. Umgekehrt hat die Demokratie die USA nicht davor bewahrt, mit dem Krieg gegen den Irak sowohl der dortigen Bevölkerung einen Bärendienst zu erweisen, als auch das Misstrauen gegen westliche Initiativen zu schüren.
Es hat keinen Sinn, im nationalen Rahmen abstrakt über Werte und Interessen zu diskutieren, wenn es längst einen wertefundierten Ordnungsrahmen internationaler Politik gibt und alles davon abhängt, ob die Mitglieder UN, vor allem die Mitglieder des Sicherheitsrates und hier vor allem die fünf Ständigen Mitglieder das kollektive Interesse an diesem Ordnungsrahmen wahrnehmen und stärken. Im Rahmen der UN die Verständigung zu suchen, ist auch ein Orientierungswert.
Joscha Schmierer
Jeden Monat kommentiert Joscha Schmierer aktuelle außenpolitische Themen. Der Autor, freier Publizist, war von 1999 – 2007 Mitarbeiter im Planungsstab des Auswärtigen Amts.